Das Mittelmeer

Mitte März machen wir die Leinen los und starten Richtung Westen. Bis dahin wird es in diesem Blog eher ruhig bleiben. Zeit, um sich ein paar Gedanken zu machen über das „Revier“, in dem wir uns hauptsächlich bewegen werden: das Mittelmeer.

Nachfolgender Text entstand vor ein paar Jahren im Rahmen eines Exposes für ein mehrteiliges Filmprojekt, das dann doch nicht realisiert wurde. Die geplante Filmreihe sollte die komplexen Zusammenhänge verständlich machen, welche den Mittel­meerraum in den letzen Jahrtausenden zum bedeutsamen Schauplatz historischer, wirtschaftlicher, kultu­reller und reli­giöser Ereignisse machten. Die Entwicklungen der jüngeren Geschichte zeigen, dass sich daran nichts geändert hat.

„Für den Historiker sind tausend Jahre keine sonderlich lange Zeit. Im Gegensatz zu manchen Menschen, die alles, was vor dem Gestern war, im schwarzen Loch des Vergessens entsorgen. Kein Wunder also, wenn dann das Banale dem Blick auf die Hintergründe im Weg steht.

Siehe ‚Mittelmeer‘: Das ist Sonne, Wasser, Urlaub, kulinarische Spezialitäten und mediterranes Lebensgefühl schlechthin. So weit die spontanen Assoziationen. Das Mittelmeer reduziert auf einen Projektionsraum nordeuropäischer Sehnsüchte!

Verständlich: kaum jemand, der nicht regelmäßig seinen Fuß an diese Gestade setzt. Zu nahe dieses Geschenk der Natur. Mit dem Flieger schneller erreichbar als man­ches inländi­sche Ziel, selbst mit dem Auto nur eine Tagesreise entfernt. Und die Menschen, auf die wir treffen, sind unseresgleichen oder zumindest in der Mehrzahl ‚Europäer‘, als Tisch- und Strandnachbarn also hinlänglich akzeptiert.

Das Mittelmeer als Mittelpunkt der Welt: Früher war das geografisch gemeint, aber selbst heute könnte man eine vergleichbare, wenn auch etwas abstraktere Bedeu­tung erkennen: Bezeichneten wir als die Mitte Europas den Ort, an dem man die meisten seiner Völker antrifft, dann spräche viel dafür, dass dieser am Mittelmeer zu finden ist.

Aber was ist der Grund für dieser Attraktion? Gibt es da vielleicht doch mehr als nur Sonne, Meer und eine archaische Vegetation? Etwas, was wir mehr spüren als dass wir es benen­nen können? Ein vages Gefühl oder ein unbewusster Drang zurückkeh­ren in einen Raum, der unseren Charakter, unsere Art zu denken und zu leben viel mehr geprägt hat, als wir uns das je vorstellen können?

Weit mehr als nur das Traumziel vieler Reisender in ganz Europa ist die Welt des Mittel­meers die Wiege nicht allein der westlichen Zivilisation, sondern einer ganzen Reihe von Hochkulturen, die seit ältesten Zeiten und bis heute den Mittelmeerraum und die Geschichte der Menschheit entscheidend geprägt haben. Die verschiedens­ten Völker trafen hier aufein­ander und drei große Weltreligionen nahmen da ihren Anfang.

Dabei hat es das Mittelmeer seinen Bewohnern nie einfach gemacht. Die Landwirt­schaft mühte sich an den größtenteils steilen Küsten mit ihren wenigen, aber um so sumpfigeren Ebenen. Und als fischreich kann man das Meer auch nicht bezeichnen, dafür ist es zu tief und zu alt. Die Stärken lagen woanders:

Mit den über die Jahrhunderte fortschreitenden Kenntnissen im Schiffsbau und der Nautik sowie der damit einhergehenden Entwicklung der Schifffahrt verlor das Mit­telmeer seinen trennenden Charakter und wurde zunehmend zu einem verbindenden Element. „Blütezeiten sind Zeiten des Verbrauchs, der Verschwendung“ sagt der große Historiker Fernand Brau­del. Und so wurde gerade in solchen Blütezeiten der Mittelmeerraum abhängig vom Meer als Transportfläche. Und wer der Herr über die Reichtümer war, der war eigentlich auch immer der Herr über das Meer, den Schatz der Schätze.

Über die Seerouten wurden aber nicht nur Waren, sondern auch neue kulturelle Erfahrungen zwischen den zahlreichen Ländern rund um das Mittelmeer ausge­tauscht. Wie hat es der französische Schriftsteller und mediterrane Geist Jean Giono beobachtet?: „Nicht über das Meer hinweg finden die Austauschbeziehungen statt, sondern mit Hilfe des Meeres. Befände sich an seiner Stelle ein Kontinent, so wäre nichts aus Griechenland nach Arabien gedrungen, nichts Arabisches nach Spanien, aus dem Orient hätte sich nichts in der Provence gefunden und nichts Römisches in Tunis. Aber auf diesem Wasser wechseln sich seit Tausenden von Jahren Mord und Liebe ab, und eine eigene mediterrane Ordnung konnte sich etablieren.“

Und so ist es eigentlich auch heute noch. Das Mittelmeer ist zwar nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, seitdem Holländer und Engländer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Zepter in Europa übernahmen und sich mit der Entdeckung Ameri­kas das globale Universum ent­sprechend erweitert hatte. Aber noch immer sind viele der Merkmale und Einflüsse, die für die Entwicklung des mediterranen Raums über die Jahrtausende hinweg entscheidend waren, die gleichen.

Der Verlauf der Ufer, die Topographie und das Klima sowieso. Auch müht sich immer noch der Bauer auf seinen möglicherweise künstlich bewässerten und terrassierten Feldern um Weinstöcke und Olivenbäume, die Kulturpflanzen schlechthin seit jeher am gesamten Mit­telmeer. Und die Fischer kommen nach wir vor am Morgen auf kleinen Kuttern mit kleinen Fängen zurück, zu wenig, um davon zu leben und gezwungen, am Tag mit einem zweiten Beruf dazu zu verdienen.

Aber auch die großen Strukturen haben sich so sehr nicht verändert. Wesentliches Konti­nuum in der mediterranen Welt ist seit Jahrhunderten unverändert ein Gleich­gewicht! Ein Gleichgewicht, gebildet durch die Konfiguration dreier kultureller Ge­meinschaften, dreier großer und dauerhafter Zivilisationen, die sich auch durch Staatsgrenzen nicht haben ein­schränken lassen und ihre grundlegenden Lebensstile, Glaubensweisen und Alltagspraktiken fortführen wie vor Hunderten von Jahren: die christliche Welt, der islamistische Kulturkreis und das griechisch-orthodoxe Univer­sum.

Und eben darin steckt die anhaltende Faszinationskraft des Mittelmeerraums, die den Reisenden genauso wie den Historiker lockt. Sie führt auch heute täglich den an­schaulichen Beweis für die Vielsprachigkeit der Lebensformen, für den Bildungs­prozess kultureller Iden­tität durch Widerspiel und Nachbarschaft, Öffnung und Selbstbehauptung.“

2 Kommentare
  1. Anna
    Anna sagte:

    Jetzt geht es bald los! Ich freue mich schon sehr Eure (hoffentlich vielen) Blogeinträge zu lesen und Fotos zu sehen und so an der spannenden Reise teilzuhaben!

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