Leben an Bord: Routine, Klausur und die Freiheiten im Kopf

Auch einfache Fragen können kompliziertere Gedanken auslösen, die wiederum zu komplexeren oder jedenfalls umfangreicheren Antworten führen als anfänglich gedacht.

„Wie verläuft ein Routinetag auf dem Segelschiff?“ fragte eine Leserin unseres Blogs, und die erste Reaktion war natürlich, das Wort „Routine“ mit einem großen Fragezeichen zu versehen. Routine wollten wir doch eigentlich hinter uns lassen. Aber tun wir das wirklich? Oder wechseln wir die Zuhause-Routine nur gegen eine etwas speziellere Urlaubs- bzw. Reise-Routine?

Und ja, auch auf dem Schiff gibt es Routine. Fängt damit an, wer sich was morgens zum Frühstück macht (immer das selbe), die Routinen nach dem Einlaufen im Hafen (Anmelden im Hafenbüro, Checken der Sanitärräume, wo ist der nächste Supermarkt) bis zu den ganz persönlichen Gewohnheiten (vor dem Einschlafen noch ein Kapitel lesen). Der Mensch erfindet sich ja nicht neu, nur weil er seine sichere Höhle verlassen hat.

Und doch ist ein Segelschiff eine der besseren Möglichkeiten, Routine aufzubrechen. Die räumliche Beschränktheit nicht nur in der Fläche, sondern auch in der Höhe zwingt zu einer ebenso harschen Einschränkung der physischen Freiheit. Der Hauptraum unter Deck, die „Messe“ hat auf der Passat circa 6 qm, stehen kann man davon nur in einem schmalen Gang, der vom Niedergang (=Treppchen ins Schiff) nach hinten führt, wo sich ein winziger Verschlag mit WC und Waschbecken anschließt (bleibt auch keine Frau freiwillig länger als eine Minute drin).

Der Begriff Downsizing erlebt hier eine weitere sehr konkrete Bedeutung. Wenn man sich die ersten Tage sämtliche Extremitäten angeschlagen hat und der Körper genügend blaue Flecken aufweist, reduziert man nicht nur jede ausladende Bewegung, sondern versucht sich insgesamt kleiner und platzsparender zu machen. Ständig will man die Bewegungen des anderen vorauszuahnen, um seine Kreise nicht zu stören. Aber aus dem Weg gehen kann man sich erst recht nicht. Leute, die sich nicht mögen, sollten jedenfalls nicht ernsthaft erwägen miteinander zu segeln. Andererseits ist es eine großartige Therapie für Leute, die meinen ihre Wohnung sei zu klein. Zur Ehrenrettung des Schiffes muss man außerdem hinzufügen, dass die Möglichkeit, überall mit ausgestrecktem Arm einen Halt zu finden, bei schwieriger See durchaus auch Vorteile bietet.

Außerdem hat diese Kleinstraumwohnung einen Balkon, den der Segler Cockpit nennt, Hier waltet und schaltet der Käpt’n, wenn das Boot unterwegs ist. Aber auch sonst ist das der „best place to be“, um klaustrophobische Anfälle (aber auch Seekrankheit) zu vermeiden.

Immerhin provoziert der wenige Platz den Ordnungssinn. Alle raumgreifenden Aktivitäten wie Anziehen oder Kochen und Geschirr spülen brauchen durch die verlangsamten Bewegungen eh schon viel mehr Zeit, und was herumliegt, verringert die kostbare Fläche noch mehr. Beim Segeln in Schräglage fällt der Kram an den tiefsten Punkt im Schiff (wechselnd), und im Cockpit können Stolperfallen schnell zum echten Ärgernis wenn nicht sogar gefährlich werden.

Was macht man nun mit den Freiheiten, die einem bleiben, wenn weder Seilspringen noch Yoga so richtig praktikabel ist? Zunächst mal sind Tage im Hafen was anderes als Tage auf See, und richtig ganz was anderes sind Nächte auf See. Im Hafen reduziert sich das Schiff zum Schlafplatz und Rückzugsort. Ansonsten tut man das, was alle Touristen machen: Land und Leute anschauen.

Aktives Segeln dagegen erfordert Zeitmanagement, wobei die zentralen Bestimmungsfaktoren Wind und Wetter sind. Der Rest hat sich unterzuordnen. Die Analyse von Wettervorhersagen erfordern Zeit, alles andere auch: Wasser bunkern, Einkaufen, sonstige Auslaufvorbereitungen. Und dann segelt man – wenn es genügend Wind hat. Dafür hat man ja ein Segelboot. Konkret heißt das, die Segel setzen, bei Flaute (kommt im Mittelmeer auch oft vor) einzuholen und, wenn oben, kontinuierlich in der Stellung zu halten, die maximale Geschwindigkeit in Bezug auf das Ziel verspricht und den Kurs dorthin öfters zu überprüfen. Das nennt sich im übrigen Navigation oder Navigieren, was früher ein riesen Thema war und heute einigermaßen leicht ist, solange das iPad funktioniert. Nebenher wird auch kontinuierlich Logbuch geschrieben.

Außerhalb des Hafens ist immer mindestens ein Segler im Cockpit, der dann auch die Verantwortung für die Sicherheit des Schiffs inne hat. Nachttörns sind insofern extrem, als alle drei Stunden die Wache an Deck wechselt, heißt, man schläft maximal drei Stunden am Stück, was am nächsten Tag deutlich in den Knochen zu spüren ist. Außerdem ist es auch in Sommernächten oft feucht draußen, und die Steife durch Bewegungsmangel wird noch verschärft durch mehrlagige Klamottage und eine Schwimmweste.

Und sonst? Sonst kann jeder machen, was er will. Lesen, schreiben (wie gerade, ha ha), Musik hören, Sterne anschauen oder gar nichts. Claus bspw. liebt es, an Bord zu kochen, gerne auch bei Seegang (Anzahl der Gänge äquivalent zur Windstärke, so kommt es mir manchmal vor). Es gibt einen kardanisch aufgehängten Herd mit Backofen, der zumindest die Rollbewegungen des Schiffs ausgleicht. Da werden oft richtige Menüs darauf gezaubert. Dazu gibt es Rotwein, guten Jazz und danach – je nach Müdigkeitslevel und im Hafen, einen Film auf dem MacBook (nein, noch zahlt uns Apple nichts). Seit neuestem hat es auch einen Bord-Grill. Das Teil ist so genial, dass wir demnächst vielleicht was extra dazu sagen.

Auch wenn sich die Tage ähneln, hat das nichts mit Routine zu tun. Routine ist das tägliche Zähneputzen, weil es dafür kein Nachdenken und erst Recht keinen Plan braucht. Für die wesentlichen Dinge auf einem Segeltörn hat man immer einen Plan, auch wenn dieser nicht zwangsläufig eins zu eins umgesetzt wird.

Ein bisschen Philosophie zum Schluss: das mit der Freiheit der Meere ist ein netter Gedanke, aber bei genauem Hinsehen gibt es kaum einen Ort größerer Verlorenheit als ein kleines Segelboot auf  großer Fahrt. Ein paar Quadratmeter Planken und dann viele, viele Seemeilen nichts mehr. Theoretisch kann man zwar noch besser sehen, wer zum Abendessen kommt, als in Ostfriesland. Aber es kommt keiner! So gesehen ist Segeln ein bisschen auch ein Akt mutwilliger Selbst-Isolation. Man erfährt selten so konkret die Distanz zwischen sich und dem Rest der Welt, wie wenn man auf hoher See einmal rundum schaut.

Aber wir wissen doch alle: der Mensch ist hin und wieder ein merkwürdiges Wesen. Im speziellen Fall des Segelns lässt er sich freudvoll einengen und zeitweilig vom Rest der Welt abschneiden, um dann von Freiheit und Unabhängigkeit zu schwadronieren. Trotzdem ist was Wahres dran. Entscheidend ist, dass diese Widrigkeiten selbst gewählt und vor allem nicht menschengemacht sind. Der schlimmste Regen ist auszuhalten, solange er nicht aus Nachbars Gartenschlauch kommt.

Und sind nicht die wahren Freiheiten die im Kopf? Du hörst den Wind, du siehst – egal wohin du schaust – immer bis zum Horizont, du spürst die Welle und jede Bewegung des Schiffs unter dir. Immer wieder und immer wieder, und es wird nie Routine.

Das Mittelmeer

Mitte März machen wir die Leinen los und starten Richtung Westen. Bis dahin wird es in diesem Blog eher ruhig bleiben. Zeit, um sich ein paar Gedanken zu machen über das „Revier“, in dem wir uns hauptsächlich bewegen werden: das Mittelmeer.

Nachfolgender Text entstand vor ein paar Jahren im Rahmen eines Exposes für ein mehrteiliges Filmprojekt, das dann doch nicht realisiert wurde. Die geplante Filmreihe sollte die komplexen Zusammenhänge verständlich machen, welche den Mittel­meerraum in den letzen Jahrtausenden zum bedeutsamen Schauplatz historischer, wirtschaftlicher, kultu­reller und reli­giöser Ereignisse machten. Die Entwicklungen der jüngeren Geschichte zeigen, dass sich daran nichts geändert hat.

„Für den Historiker sind tausend Jahre keine sonderlich lange Zeit. Im Gegensatz zu manchen Menschen, die alles, was vor dem Gestern war, im schwarzen Loch des Vergessens entsorgen. Kein Wunder also, wenn dann das Banale dem Blick auf die Hintergründe im Weg steht.

Siehe ‚Mittelmeer‘: Das ist Sonne, Wasser, Urlaub, kulinarische Spezialitäten und mediterranes Lebensgefühl schlechthin. So weit die spontanen Assoziationen. Das Mittelmeer reduziert auf einen Projektionsraum nordeuropäischer Sehnsüchte!

Verständlich: kaum jemand, der nicht regelmäßig seinen Fuß an diese Gestade setzt. Zu nahe dieses Geschenk der Natur. Mit dem Flieger schneller erreichbar als man­ches inländi­sche Ziel, selbst mit dem Auto nur eine Tagesreise entfernt. Und die Menschen, auf die wir treffen, sind unseresgleichen oder zumindest in der Mehrzahl ‚Europäer‘, als Tisch- und Strandnachbarn also hinlänglich akzeptiert.

Das Mittelmeer als Mittelpunkt der Welt: Früher war das geografisch gemeint, aber selbst heute könnte man eine vergleichbare, wenn auch etwas abstraktere Bedeu­tung erkennen: Bezeichneten wir als die Mitte Europas den Ort, an dem man die meisten seiner Völker antrifft, dann spräche viel dafür, dass dieser am Mittelmeer zu finden ist.

Aber was ist der Grund für dieser Attraktion? Gibt es da vielleicht doch mehr als nur Sonne, Meer und eine archaische Vegetation? Etwas, was wir mehr spüren als dass wir es benen­nen können? Ein vages Gefühl oder ein unbewusster Drang zurückkeh­ren in einen Raum, der unseren Charakter, unsere Art zu denken und zu leben viel mehr geprägt hat, als wir uns das je vorstellen können?

Weit mehr als nur das Traumziel vieler Reisender in ganz Europa ist die Welt des Mittel­meers die Wiege nicht allein der westlichen Zivilisation, sondern einer ganzen Reihe von Hochkulturen, die seit ältesten Zeiten und bis heute den Mittelmeerraum und die Geschichte der Menschheit entscheidend geprägt haben. Die verschiedens­ten Völker trafen hier aufein­ander und drei große Weltreligionen nahmen da ihren Anfang.

Dabei hat es das Mittelmeer seinen Bewohnern nie einfach gemacht. Die Landwirt­schaft mühte sich an den größtenteils steilen Küsten mit ihren wenigen, aber um so sumpfigeren Ebenen. Und als fischreich kann man das Meer auch nicht bezeichnen, dafür ist es zu tief und zu alt. Die Stärken lagen woanders:

Mit den über die Jahrhunderte fortschreitenden Kenntnissen im Schiffsbau und der Nautik sowie der damit einhergehenden Entwicklung der Schifffahrt verlor das Mit­telmeer seinen trennenden Charakter und wurde zunehmend zu einem verbindenden Element. „Blütezeiten sind Zeiten des Verbrauchs, der Verschwendung“ sagt der große Historiker Fernand Brau­del. Und so wurde gerade in solchen Blütezeiten der Mittelmeerraum abhängig vom Meer als Transportfläche. Und wer der Herr über die Reichtümer war, der war eigentlich auch immer der Herr über das Meer, den Schatz der Schätze.

Über die Seerouten wurden aber nicht nur Waren, sondern auch neue kulturelle Erfahrungen zwischen den zahlreichen Ländern rund um das Mittelmeer ausge­tauscht. Wie hat es der französische Schriftsteller und mediterrane Geist Jean Giono beobachtet?: „Nicht über das Meer hinweg finden die Austauschbeziehungen statt, sondern mit Hilfe des Meeres. Befände sich an seiner Stelle ein Kontinent, so wäre nichts aus Griechenland nach Arabien gedrungen, nichts Arabisches nach Spanien, aus dem Orient hätte sich nichts in der Provence gefunden und nichts Römisches in Tunis. Aber auf diesem Wasser wechseln sich seit Tausenden von Jahren Mord und Liebe ab, und eine eigene mediterrane Ordnung konnte sich etablieren.“

Und so ist es eigentlich auch heute noch. Das Mittelmeer ist zwar nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, seitdem Holländer und Engländer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Zepter in Europa übernahmen und sich mit der Entdeckung Ameri­kas das globale Universum ent­sprechend erweitert hatte. Aber noch immer sind viele der Merkmale und Einflüsse, die für die Entwicklung des mediterranen Raums über die Jahrtausende hinweg entscheidend waren, die gleichen.

Der Verlauf der Ufer, die Topographie und das Klima sowieso. Auch müht sich immer noch der Bauer auf seinen möglicherweise künstlich bewässerten und terrassierten Feldern um Weinstöcke und Olivenbäume, die Kulturpflanzen schlechthin seit jeher am gesamten Mit­telmeer. Und die Fischer kommen nach wir vor am Morgen auf kleinen Kuttern mit kleinen Fängen zurück, zu wenig, um davon zu leben und gezwungen, am Tag mit einem zweiten Beruf dazu zu verdienen.

Aber auch die großen Strukturen haben sich so sehr nicht verändert. Wesentliches Konti­nuum in der mediterranen Welt ist seit Jahrhunderten unverändert ein Gleich­gewicht! Ein Gleichgewicht, gebildet durch die Konfiguration dreier kultureller Ge­meinschaften, dreier großer und dauerhafter Zivilisationen, die sich auch durch Staatsgrenzen nicht haben ein­schränken lassen und ihre grundlegenden Lebensstile, Glaubensweisen und Alltagspraktiken fortführen wie vor Hunderten von Jahren: die christliche Welt, der islamistische Kulturkreis und das griechisch-orthodoxe Univer­sum.

Und eben darin steckt die anhaltende Faszinationskraft des Mittelmeerraums, die den Reisenden genauso wie den Historiker lockt. Sie führt auch heute täglich den an­schaulichen Beweis für die Vielsprachigkeit der Lebensformen, für den Bildungs­prozess kultureller Iden­tität durch Widerspiel und Nachbarschaft, Öffnung und Selbstbehauptung.“